Zwischen Talent und Selbstüberschätzung

Von Stefan Kühn

In der Regel wird die eigene Fähigkeit, wirksam verhandeln zu können, stark überschätzt. Mit dieser Fehleinschätzung und den tatsächlichen Stärken und Schwächen setzt sich dieser Artikel auseinander.

Eigentlich wird täglich verhandelt, jahrein, jahraus. Im Geschäft, mit den Mitarbeitenden, in der Familie, unter Freunden oder mit Nachbarn. Die Suche nach Lösungen, nach Einigungen oder das Einbringen der eigenen Position findet konstant statt, oftmals ohne das Bewusstsein, dass es sich bei dem, was da gerade passiert, um eine Verhandlung handelt. Dieses Sich-nicht-bewusst-Sein macht die Sache in der Regel nicht einfacher. Auf der anderen Seite wird das Kaufen eines Autos, das Aushandeln eines neuen Partner-Agreements, das Verhandeln eines neuen Tarifsystems oder der Einkauf von Halbfabrikaten ohne Zweifel als Verhandlung taxiert.

Kognitive Verzerrung
Durch eine solche limitierte Sichtweise werden in der Schweizer Wirtschaft jährlich viele Millionen Franken verschenkt, die durch ein bewussteres Verhandeln hätten abgesichert werden können. Mit anderen Worten, man lässt sein Geld auf dem Verhandlungstisch liegen, ohne es zu merken. Doch noch um ein Vielfaches gravierender ist der Wertverlust bei sogenannt bewusst geführten Verhandlungen. Führungskräfte halten zu oft an eigenen Verhaltensmustern fest, welche nach dem Try-and-Error-Prinzip entstanden sind und jeweils vermeintlich gute Verhandlungsresultate erzielt haben.

Ein kurzes Zahlenspiel zur Einstimmung: Das Durchschnittsalter der in Schweizer KMU tätigen Geschäftsleitungsmitglieder liegt bei 55 Jahren. Legt man, der Statistik zuliebe, das Eintrittsalter in das Berufsleben auf 25 Jahre, verfügt ein Executive im Durchschnitt über 30 Jahre Verhandlungserfahrung.

Auch beim unteren und mittleren Kader sieht es nicht schlecht aus. Mit einem Durchschnittsalter von 43 Jahren schafft es diese Gruppe auf respektable 18 Jahre Berufserfahrung, die – in welchem Kontext auch immer – ununterbrochen von Verhandlungen geprägt sowie begleitet worden ist. Die einen haben einen grossen Teil ihrer Laufbahn hinter sich, die anderen sind mittendrin, aber im Schnitt verfügt jeder Leser dieses Artikels über mindestens 20 000 Stunden Verhandlungserfahrung. Das sollte reichen, um fit für Verhandlungen zu sein. Das tut es auch, sonst wären Executives nicht dort, wo sie heute sind. Dennoch: «Reichen» ist für jene, die zu den Besten gehören wollen, nicht gut genug, und fit sein ist auch in anderen Bereichen bekanntlich ein eher relativer Begriff.

Etwas mehr als 80 Prozent aller Führungskräfte sind der Meinung, dass sie zu den 20 Prozent der besten Verhandlungspersonen gehören. Bei einigen Berufsgattungen, zum Beispiel Anwälten, Bankern, M & A-Spezialisten und Beratern, liegt der Faktor noch höher. Da geht mathematisch etwas nicht auf. Diese kognitive Verzerrung nennt sich Vermessenheitsverzerrung oder Selbstüberschätzung. Führungskräfte überschätzen ihr eigenes Können und ihre eigene Kompetenz weit öfters, als ihnen bewusst ist.

Risiko durch Fehleinschätzung
Ab hier wird es gefährlich, denn wer sich in Verhandlungen überschätzt, tut sich und seiner Organisation in der Regel nichts Gutes. Wer mit Selbstüberschätzung in eine Verhandlung einsteigt, der schwächt seine Position. Die übersteigerte, nicht angebrachte Sicherheit birgt das Risiko, dass der Verhandlungsvorbereitung zu wenig oder gar keine Beachtung geschenkt wird. Ohne diese sind aber exakte Ziele, brauchbare Alternativen, Situationsanalysen und Verhandlungsstrategien zu wenig oder gar nicht defniert. Wer sich ohne schlagkräftige Alternative und ohne eine messerscharfe Zielvorstellung an den Verhandlungstisch wagt, verschenkt einen guten Teil seiner Machtposition, hat dafür aber grosse Chancen, zufrieden nach Hause zurückzukehren.

Zufrieden ist man immer dann, wenn die eigenen Vorstellungen erreicht oder sogar übertroffen worden sind. Schwammige, respektive nicht exakt defnierte Ziele führen bei Verhandlungen dazu, dass man mit dem Erreichten zufrieden ist, da man keine Eckwerte hat, um das Erreichte mit Zielvorstellungen, die im Vorfeld der Verhandlung gemacht wurden, zu vergleichen. Ohne Vorbereitung und klar defnierte Verhandlungsziele ist es nicht möglich, eigene Fehlleistungen erkennen und ableiten zu können. Der wichtige Lernprozess bleibt aussen vor und verunmöglicht es Verhandlungsparteien und ganzen Organisationen, sich zu verbessern.

Nicht ohne Training
Wenn selbst ein schwammig defnierter Erfolg ausbleibt, stehen Verhaltensmuster bereit, um zu trösten und zu beruhigen. Ein kollegialer Schulterschlag, begleitet von den Worten: «Kopf hoch, das hätte allen passieren können» oder «die Ausgangslage war einfach hoffnungslos, das hätte auch niemand anders hinbekommen» oder, auch dieser Spruch hat sich in der Praxis bewährt: «Komm schon, die Gegenseite war überhaupt nicht kooperativ, schwierig und anmassend. Mit einer solchen Partei kann man nicht verhandeln.»

Analyse machen
Wie auch immer der Trost aussieht, auch dieser Prozess verleitet dazu, die Gründe des Scheiterns nicht weiter zu analysieren und falls doch, dann mit der Erkenntnis, dass die Ursache des Scheiterns eher bei der Gegenseite oder dem eigenen Umfeld und weniger bei sich selber lagen. Das wäre dann schon die zweite kognitive Verzerrung: Die Partisan Perception beschreibt den Umstand, dass das Verhalten der Gegenpartei im Vergleich zum eigenen als unzumutbar, unverhältnismässig und extrem beurteilt wird.

Um sich der Antwort, ob man fit zum Verhandeln sei, weiter annähern zu können, ist die Auseinandersetzung mit den Begriffen «Talent» oder «Gabe» interessant. Im Zusammenhang mit der Fähigkeit, erfolgreich verhandeln zu können, werden beide immer wieder und sehr gerne verwendet. Beide Begriffe implizieren, man besitze eine Fähigkeit einfach so, man habe sie quasi in die Wiege gelegt bekommen. Einigen wird diese Fähigkeit von anderen zugesprochen, weit öfters attestiert man sie sich selber. Dass Talent existiert, steht ausser Frage. Jede Person verfügt über Talente. Eine Gabe oder ein Talent allein macht aber noch niemanden zum Meister. Sie bilden im besten Fall die Grundlage, auf der man mit intensiver und ständiger Aus- und Weiterbildung, unermüdlichem Training und Refexion seine Fähigkeiten stärkt und ausbaut.

Spitzensportler besitzen defnitiv ein Talent in ihrer Kerndisziplin. Aber ohne intensive Vorbereitung, ein hartes Training und einem fordernden Coaching schafft es dennoch niemand ganz nach vorn, geschweige dass man dort bleibt. Auch Intuition wird oftmals mit Verhandlungen in Zusammenhang gebracht. Das sogenannte Bauchgefühl, das zum richtigen Zeitpunkt das Zünglein an der Waage des Entscheidens spielt. Viele sind der Ansicht, dass ihnen der Bauch in Sachen Entscheidungen gute Dienste leistet. Der Bauch wird mit dieser Einstellung de facto über die Ratio gestellt.

Risiko einschätzen
Gerade weil der Ausgang einer Verhandlung enorme, langfristige und risikobehaftete Folgen haben kann, erstaunt es umso mehr, dass ausgerechnet in dieser Disziplin Erfolg oder Misserfolg vom Bauchgefühl gesteuert werden. Bei der Strategieentwicklung, dem Businessplan, der Finanzplanung oder dem Verabschieden von Grossinvestitionen würde es niemand wagen, diese Aufgaben mit blosser Intuition anzugehen, und – sollte es sich doch so abgespielt haben – würde das niemand so kommunizieren. Für diese Bereiche gibt es Best-Practice-Ansätze, Hunderte von verschiedenen Vorgehensweisen sowie unzählige anerkannte Berechnungs- und Analysevarianten. Auch die Verhandlungswissenschaften, eine noch junge akademische Fachrichtung, hält für die Arten von Verhandlungen und Verhandlungssituationen bahnbrechende Modelle bereit. Da diese aber noch nicht so verbreitet sind wie die wirtschaftswissenschaftlichen Modelle, behält die Intuition bei Verhandlungen vorderhand noch hartnäckig die Oberhand.

Fit zum Verhandeln?
Praxisbezogene Studien zu diesem Themenbereich zeigen, dass professionell vorbereitete, auf Kriterien abgestützte Verhandlungen den auf Intuition basierten um Welten überlegen sind. Wirksames Verhandeln ist weniger Kunst als vielmehr eine Wissenschaft, die, und das ist die positive Botschaft, als solche erlernt werden kann. Die Frage, ob man genügend fit zum Verhandeln ist, sollte man sich regelmässig selber stellen und beantworten. Diese Punkte helfen dabei:

  • Werden Verhandlungen jederzeit bewusst als solche wahrgenommen?
  • Findet eine adäquate sowie selbstkritische Einschätzung über die eigene Verhandlungsfähigkeit statt (kontext- bezogen)?
  • Sind Verhandlungsziele präzise, messbar und terminiert defniert?
  • Werden Erfolge regelmässig und kritisch hinterfragt?
  • Werden die Ursachen von Niederlagen analysiert? Liegt der Fokus dieser Analyse in erster Linie bei der eigenen oder der anderen Partei?
  • Ist das Bauchgefühl ausgeschaltet und stützen Sie sich auf Faken?
  • Werden durch Routine antrainierte Verhandlungsmuster hinterfragt? Ist man neuen Verhandlungsmodellen gegenüber offen?

Wenn zwei oder mehrere dieser Punkte mit «Nein» beantwortet werden sollten, ist man gut beraten, die eigene Situation zu überdenken und danach nach Möglichkeiten zur Verbesserung zu suchen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass die Gegenseite genau dies tut, nimmt fort- während zu.

Über den Autor

Stefan Kühn
Verhandlungsexperte, Partner

Stefan Kühn, Partner/CEO INCS AG, ist Verhandlungsführer, Verhandlungstrainer und Mediator. Er führt nationale und internationale Multi-Parteien-Verhandlungen und berät Unternehmen, Organisationen und staatliche Stellen in anspruchsvollen und konfliktbehafteten Situationen. Er ist Absolvent des Programms „Negotiation & Diplomacy“ der Harvard Law School, der Metropolitan Police (MPSTC) in „Difficult Negotiations, Profiling, Tactics & Emotions“ und der CIAU in „Crisis Negotiation & Communication“.

Wenn Sie nichts verpassen wollen, tragen Sie sich in unseren Newsletter ein!

Unser Angebot

Verhandlungsberatung

Überlassen Sie nichts dem Zufall. Wir begleiten Sie und führen Sie bei konkreten Verhandlungen sicher ans gewünschte Ziel.

Mehr
Verhandlungsberatung

Überlassen Sie nichts dem Zufall. Wir begleiten Sie und führen Sie bei konkreten Verhandlungen sicher ans gewünschte Ziel.

Mehr
Verhandlungstraining

Bringen Sie Ihre Verhandlungsfähigkeit mit unserem Ausbildungsprogramm auf das nächste Level.

Mehr
Verhandlungstraining

Bringen Sie Ihre Verhandlungsfähigkeit mit unserem Ausbildungsprogramm auf das nächste Level.

Mehr
Verhandlungscoaching

Machen Sie es wie die Profis. Engagieren Sie einen persönlichen Coach, um Ihre Verhandlungskompetenz laufend zu perfektionieren.

Mehr
Verhandlungscoaching

Machen Sie es wie die Profis. Engagieren Sie einen persönlichen Coach, um Ihre Verhandlungskompetenz laufend zu perfektionieren.

Mehr